Rede von Imme Feldmann zur Eröffnung der Ausstellung „100 Gründe“ am 02.02.2020

im Kunstpunkt Schleusenhaus

 

 

Liebe Freunde und Besucher*innen der Ausstellung, ich freue mich, Sie und Euch zu begrüßen.

Unser Ausstellungsprojekt „100 Gründe“ wird in diesem Jahr von der Gleichstellungsbeauftragten

der Stadt Stade gefördert, dafür herzlichen Dank. Auch im letzten Jahr stellten zu Anfang des Jahres drei Künstlerinnen (Monica Bohlmann, Freya Burmeister und Andrea Rausch) aus. Obwohl wir uns nicht unter dem Aspekt zusammengefunden haben, dass wir explizit zum Thema Gleichberechtigung oder Feminismus ausstellen, lassen sich doch an unseren Arbeiten einige Merkmale ablesen, die eine weiblich geprägte Sichtweise darstellen. In diesem Zusammenhang möchte ich daran erinnern, dass Frauen eigentlich erst seit 100 Jahren, also seit 1919 – mit der Einführung des Frauenwahlrechts - den Zugang zu Kunsthochschulen haben.

 

Ich beginne mit den Arbeiten von Birgit Lindemann. Sie ist in Stade im Übrigen keine Unbekannte, sie wurde 1957 in dieser Stadt geboren und ist, obwohl sie in Kiel Bildhauerei studiert hat und zwischen Kiel und Eckernförde wohnt, doch ihrer Heimatstadt in vielfältiger Weise verbunden geblieben, sie ist Mitglied im BBK Stade-Cuxhaven und hat auch schon an Gruppenausstellungen im Kunstverein Stade teilgenommen. Das Modellieren mit Ton nach der Natur war einer der Schwerpunkte ihres Studiums der Bildhauerei, vorwiegend bei Jan Koblasa. Die Auseinandersetzung mit Körperformen und -haltungen und das Zusammenfügen der Formen zu einer Gesamtfigur hat sie immer wieder als spannende Herausforderung erlebt. Sie hat also noch Bildhauerei in der klassischen Form studiert. Nach Jahren des Experimentierens mit beweglichen Lichtobjekten, in denen die menschliche Figur eher als Schablone dargestellt wird, hat Birgit vor etwa sieben Jahren zurückgefunden zu dem klassischen Thema der Bildhauerei, der menschlichen Figur. Und hier sind es nun überwiegend weibliche Modell, die Birgit in Szene setzt, fern jeglicher sexistischen Aufladung, sondern mit psychologischem Gespür für Gebärden und Gesichtsausdrücke, wobei die handwerkliche Perfektion der anatomischen Umsetzung fasziniert. Wir sehen beispielsweise ein Mädchen in einem etwas altmodischen Mantel, das wegen eines entzweigegangenen Stofftiers, eines Teddybären, schreit – der Mantel entrückt das Mädchen in eine Zeitlosigkeit, schon vor etlichen Jahren hätte sich diese Szene ereignen können. Wir sehen ein Mädchen, das mit den Lippen einen Kaugummi zu einer Blase formt; wir sehen eine weibliche Figur, die auf einer Kiste hockt, Titel „Die Flut kommt“ (ein Bezug auf den steigenden Meeresspiegel wird gegeben); wir sehen ein sehr schönes Porträt, und zwar das eines dunkelhaarigen jungen Mädchens mit einem etwas trotzigen Gesichtsausdruck; und wir sehen zwei kleine Figuren, die auf langen, schmalen Sockeln sitzen. Anfügen möchte ich, dass die Bildhauerin auch sehr bewusst den Sockel in ihre figürlichen Kompositionen einbezieht. Es sind die Accessoires und die Bemalung, mit deren Hilfe Birgit den Figuren eine zeitgenössische Wendung verleiht. Wie ich weiß, sammelt die Künstlerin Bildbeispiele aktueller Positionen der Bildhauerei, besucht Museen und nimmt wach an der Debatte um zeitgenössische figürliche Bildhauerei teil. Man kann zum Beispiel den Holzbildhauer Stephan Balkenhol nennen, der seit den 80er Jahren figürliche Kunst in ähnlicher Weise kreiert. - Birgits Werkstoff ist Terrakotta, für die Bemalung benutzt sie mit Knochenleim angerührte Pigmente. In der Regel sind ihre Plastiken Unikate; Auflagenkunst ist eher die Ausnahme. Um noch einmal auf den weiblichen Aspekt einzugehen: in einigen ihrer freien Arbeiten erschafft Birgit die leise Variante des „aufmüpfigen“ Mädchens. Die Kaugummiblase ist ein freches Detail. Der schreiende Mensch, seit Edvard Munchs berühmtem Schrei, findet sich bei Birgit Lindemann in Personifikation eines Mädchens, das über seinen entzweigegangenen Teddy (und womöglich noch über viel mehr) schreit. Die Künstlerin selbst formuliert ihr Anliegen eher zurückhaltend: ihr Interesse sei auf den individuellen persönlichen Ausdruck des Menschen gerichtet, ebenso auf Erfahrungen und Emotionen, die wir als Menschen gemeinsam haben.

 

Ich selbst, Imme Feldmann, Jahrgang 1964, bin in Rendsburg geboren worden. Zum Studium bin ich nach Hamburg gegangen. Dort habe ich Mitte der 80er Jahre viele künstlerische Eindrücke empfangen, aber erst nach meiner Rückkehr nach Schleswig-Holstein habe ich mich auf Grafik, speziell den Holzschnitt, spezialisiert, und habe mithilfe dieser Technik eine Ausdrucksmöglichkeit gefunden, die kontinuierliches Arbeiten gewährt. Der Holzschnitt ist eine „OldSchool“-Technik und als Hochdruck eine der einfachsten Drucktechniken. Bekannt sind die Holzschnitte der Dürer-Zeit. Die Expressionisten haben den Holzschnitt neu belebt , und in den 1980er Jahren haben sich wiederum viele namhafte Künstler (u.a. Penck, Baselitz, Immendorff, Kiefer) dieser Technik angenommen. Auch der Künstler Gustav Kluge, bei dem ich in Hamburg studierte, hat eindrucksvolle Holzschnitte gefertigt. Mittlerweile gibt es eine Holzschnitt-Szene, in die man beispielsweise Einblick bekam anlässlich der gerade beendeten Ausstellung „Gratwanderung“ im Kunsthaus Stade, als bekanntere Namen nenne ich Gert und Uwe Tobias sowie Benjamin Badock. - Die Motive für meine Holzschnitte entnehme ich dem eigenen Erleben, aber auch Anregungen aus der Presse (Fotografien), dem Kunstkontext und dem eigenen Prozess des Zeichnens. Einerseits sind Themen figürlich gefasst (zum Beispiel die „Hochzeitstorte“ oder das Motiv, das ich „Im Hotel“ benenne), andererseits aber gestalte ich auch abstrakte Kompositionen. Die Holzschnitte, denen ich den Titel „Quelle“, „Jalousie“ oder auch „Gewebe“ gebe, sind aus dem Prozess des Zeichnens und dem freien Spiel mit Linien entstanden. Spezifische weibliche Themen werden beispielsweise in dem Holzschnitt mit dem Titel „Wellness“ angesprochen. Das Bild ist wiederum komplex: der Kopf ist aus veränderter Perspektive zu sehen, die massierenden Hände (einer zweiten Person) betonen den Kopf als Sitz des Gehirns und der Empfindungen, des Seelischen. Die Augen der Person in `Wellnes-Behandlung´ sind geschlossen, das Gesicht vermittelt einen entspannten Eindruck. Vorlage war ein banales Foto aus einem Prospekt. Die künstlerische Arbeit besteht nicht zuletzt darin, derlei Vorlagen ausfindig zu machen und für den eigenen Gestaltungsprozess umzusetzen. Ein Motiv aus dem Alltag wird dann in der künstlerischen Umsetzung erhöht und in eine gewisse Zeitlosigkeit versetzt. Meine Grafiken drucke ich im Übrigen in kleinen Auflagen (früher 20, heute eher 10 Exemplare von einem Druckstock), und das Papier ist Zerkall-Bütten.

 

Susanne Nothdurft ist die dritte Künstlerin im Bunde. Jahrgang 1973, wurde sie in Tönning geboren und absolvierte das Abitur in Husum. Sie hat sich dann einen Traum erfüllt, indem sie nach dem Abi nach Amerika geflogen ist und Städte wie New York und San Francisco besucht hat, auch war sie in Florida. Später studierte sie Freie Kunst in Kiel und Berlin, und während dieser Zeit hat sie wiederum New York besucht. Als Künstler, die sie in ihrem Werk beeinflusst haben, nennt sie bekannte amerikanische Künstler wie Donald Judd, Dan Graham und Bruce Nauman, als Vorbild aus Deutschland erwähnt sie unter anderem Günther Förg. Minimalismus und Konzeptkunst haben Susanne beeindruckt, aber auch poetischere, persönlichere Werke wie diejenigen von Louise Bourgeois. In ihren Arbeiten, die deutlich von der Herkunft aus dem Bereich der Malerei geprägt sind (in Kiel war sie in der Klasse Peter Nagel), geht Susanne Nothdurft konzeptuell offen mit Farbe und Form in Relation zu Fläche und Raum um. Sie arbeitet in verschiedenen Medien, kreiert Malerei und Reliefs, Installationen und Objekte. Ihre ästhetischen Experimente wecken, kitzeln und schulen unser Wahrnehmungsvermögen – einer eindeutigen figürlichen Zuordnung verweigern sie sich. In der Ausstellung sehen wir beispielsweise eines ihrer Tondarien (Tondo bedeutet kreisrundes Gemälde oder Relief). Ihre Tondarien, in diesem Fall ein in Rot gehaltenes, erinnern an Petri-Schalen, in denen allerlei Mikro-Organismen wimmeln, aber die eindeutige Zuordnung ist nicht gegeben. In einem anderen rot gehaltenen Bild finden wir viele kreisrunde Punkte. Die Form des runden Punkts hat Susanne dann in einem Arbeitsprozess bis zu ihren Tondarien ausgeweitet. Trotz aller konzeptuellen Strenge haben Susannes Bilder und Objekte auch eine poetische Ausdruckskraft; wir finden beispielsweise ein großformatiges Bild, dessen Farbauftrag uns an abstrahierte Landschaftsmalerei erinnert. Ich empfinde ihre Arbeiten als ästhetisch interessante Ergänzung zu den Werken von Birgit und mir, ihre Werke nehmen ganz andere Strömungen der Gegenwartskunst in sich auf und bilden einen gelungenen Kontrast zu den figürlichen Setzungen. Wie Uwe Haupenthal, Leiter des Richard-Haizmann-Museums in Niebüll in einem Katalogbeitrag formulierte, vermitteln Susanne Nothdurfts Arbeiten einen kosmisch-universellen Anspruch. Dies kann man beispielsweise nachvollziehen, wenn man ihre „moves“ betrachtet, bunt bemalte, aufwändig gearbeitete Reliefs, die sich mit ihren ausgefransten Rändern auszudehnen scheinen. Susanne ist, wie sich in den „moves“ offenbart, auch eine engagierte und tüchtige Handwerkerin, die nicht nur Leinwände, sondern auch Holzobjekte bemalt, letztere werden auch gesägt. Partituren, Kodierungen, Verschlüsselungen, optische Klänge – das sind Stichworte, die sie selbst zu ihren Werken gibt. Bei den „moves“ gibt es auch eine digitale Anmutung. Abstrakte Begriffe wie Entschleunigung und Dynamik fallen ihr zu ihren Arbeiten ein, auch Serialität, Fortführbarkeit, das Ausloten körperlicher Grenzen. So bilden ihre Arbeiten einen Gegenpart und auch eine Ergänzung zu den Werken der anderen beiden Künstlerinnen.

 

„Es gibt 100 Gründe, warum ich meine Werke gerade so und nicht anders formuliere“, sagt Susanne Nothdurft. Damit spielt sie auf ihre lange Ausbildungszeit an, jedoch auch auf persönliche Präferenzen. Unser Ausstellungstitel ist bewusst offen und spielerisch gewählt, und Sie als Besucher können durch die Ausstellung gehen und dazu Assoziationen bilden. Ich wünsche Ihnen noch viel Vergnügen in der hiermit eröffneten Ausstellung. Wir als Künstlerinnen stehen Ihnen auch gern zur Verfügung, falls Sie noch Fragen haben.