Überlagerungen

 

Gruppe Austausch

Albrecht-Schattenburg-Kolod-Barth-Seifert

 

Kunstverein Stade, Schleusenhaus

Text zur Ausstellungseröffnung am 1. Dezember 2019

 

(c) Jutta de Vries

 

 

Herzlich willkommen zum 1. Advent, liebe Kunstfreunde und -freundinnen, und vor allem liebe Mitglieder der „Gruppe Austausch“, die uns hier im Schleusenhaus deutliche Kontraste bieten zu Weihnachtsmarktduftgemenge, Dudelkakophonien und Punschglasklirren.

 

„Überlagerungen“ ist der Titel der Ausstellung, und ich habe mich mal schlau gemacht:

 

Zitat aus Wikipedia: „Überlagerungen werden im mathematischen Teilgebiet der Topologie untersucht. Eine Überlagerung eines topologischen Raums besteht aus einem weiteren topologischen Raum, dem Überlagerungsraum, und einer stetigen Abbildung, die aus dem Überlagerungsraum in den Ausgangsraum abbildet und bestimmte Eigenschaften besitzt. Zwei topologische Räume heißen homöomorph (auch topologisch äquivalent), wenn sie durch einen Homöomorphismus (auch topologische Abbildung oder topologischer Isomorphismus) ineinander überführt werden können; sie liegen in derselben Homöomorphieklasse und sind, unter topologischen Gesichtspunkten, gleichartig. Die Topologie untersucht Eigenschaften, die unter Homöomorphismen invariant sind. Anschaulich kann man sich einen Homöomorphismus als Dehnen, Stauchen, Verbiegen, Verzerren, Verdrillen eines Gegenstands vorstellen“

 

Und was hat diese mathematische Definition, dieser sogenannte „Hochhebungsmechanismus“, mit Kunst zu tun, was ist so interessant, dass sie zum Ausstellungstitel wird?

De facto ist es ja so, dass wir nicht-mathematisch geprägten Menschen den Begriff der Überlagerung mehr mit greifbaren, sichtbaren Handlungen verbinden, Stichwort Weihnachtsmarkt: hier überlagern und steigern sich gnadenlos die Klischees der Adventszeit. Der Begriff ist aber auch üblich in der Beschreibung künstlerischer Techniken. Da sind Reihung und Streuung die Antipoden von Ballung und Schichtung, oft erhöht sich die Attraktivität der gestalterischen und interpretatorischen Möglichkeiten gerade durch Überlagerungen von Form, Farbe, Gegenstand, Aussage. Und in dieser Ausstellung ist das Thema auch so zu verstehen, als große Frage nach den Überlagerungen, die sich durch die lose Zusammenarbeit, die partielle Kommunikation, die seltene Arbeit an einem gemeinsamen Ort und die gegenseitige Inspiration der „Gruppe Austausch“ ergeben.

Das, meine sehr geehrten Herren und Damen, werden Sie selbst herausfinden wollen, denn jede/r von Ihnen stellt ja bei der Betrachtung der Ausstellung eine ganz individuelle Beziehung zu den Werken her.

 

Ich möchte Ihnen gern die 3 Künstlerinnen Iris Albrecht, Gisela Schattenburg und Ute Seifert und die 2 Künstler Ulrich Barth und Michael Kolod, vorstellen, die bei aller Eigenständigkeit und Unterschiedlichkeit ihrer Positionen eine Gemeinsamkeit pflegen: sie bleiben nicht in ihrem Schneckenhaus oder dem weißen Turm hocken verstricken sich nicht selbstverliebt in ihre eigene Kunst, sondern öffnen sich dem anregenden Dialog mit den Kollegen, sind neugierig, freundschaftlich und tolerant anderen Auffassungen und Stilformen gegenüber. Das ist bemerkenswert, weil wir sehen können, wie divergent die Positionen sind.

 

Da ist zuerst einmal Iris Albrecht. Sie lebt und arbeitet nach dem Studium der Malerei an der FH/TU Hannover in Hamburg, hat etliche Auszeichnungen eingeheimst und hat neben ihrer Ausstellungstätigkeit im In- und Ausland in den vergangenen Jahren für das Kulturforum Nord in HH Vermittlungsprojekte mit Kindern im Außenraum durchgeführt, die Ergebnisse finde ich sehr faszinierend. Iris Albrecht hat Bodenobjekte mitgebracht, die alle Räume des Hauses im Auf und Ab schwenkbarer Rollenträger miteinander verbinden: drei in Reihe balancierender Wachstafelformationen in unterschiedlicher Höhe, Farbverläufe, eingeschriebene Schriften, Assoziationen zu großen Büchern, - Folianten mit Historien lange vergangener Zeiten - lassen sich nicht vermeiden; aber längst scheinen Inhalte unlesbar und Bedeutung gelöscht. Auf dem Zenit der Komposition zeigt sich die Leere des Rahmenkonglomerats…. Aber Hoffnung auf Erkenntnis, in wie weit auch immer, bleibt: im letzten Raum entfaltet sich eine Balanceschaukel gleich doppelt. Die in die Rahmen eingeschriebenen Botschaftsträger aus Paraffin und Pigmenten bieten ihren aleatorischen Form- und Farbenfluss als Gedankenspiel an.

 

Gisela Schattenburg wohnt in Berlin, hat in Hannover Design und in Braunschweig freie Kunst studiert. Neben ihrer eigenen Ausstellungstätigkeit war Gisela Schattenburg als Organisatorin und Seminarleiterin im Bereich bildender Kunst überregional und im Austausch mit Frankreich tätig. Eine existenzielle Erfahrung in Gisela Schattenburgs Leben war eine längere Reise nach Tibet. Seither hat sie sich von den malerischen Bereichen der Kunst abgewandt; keine Farbe mehr, sondern schwarz-weiß. Arbeitsmittel ist jetzt die Reißkohle. Reißkohle , (von m.a. reißen umreißen, also zeichnen eines Gegenstandes), ist aus Gründen der Haltbarkeit aus gemahlener Kohle und Bindemitteln im Handel und eignet sich besonders, wenn eine Künstlerin wie Gisela Schattenburg mit Schwung und Kraft, aus dem ganzen Arm heraus, ihre rhythmischen Liniengefüge, sogartigen Spiralformen oder Fragmente und Kürzel einer zu erahnenden Natur oder Landschaft formuliert. Besonders rasante Bewegungselemente einer schwebenden Tiefe entstehen durch den transparenten Einsatz von Acrylweiß – daher erklären sich auch einige Titel: „schwarz weiß und weiß“. Andere, starke Gegenkräfte, „Kontraer“ betitelt, aktivieren Richtungsänderungen.

Lassen Sie sich von diesen immensen Kräften mitreißen!

 

Immer reduzierter im Farbgefüge ihrer vielfältigen Techniken wird Ute Seifert, deren Arbeiten ich schon lange Jahre begleiten darf. Ute Seifert wurde in Lauf an der Pegnitz geboren, lebt und arbeitet seit langer Zeit in Ottersberg. Ihre künstlerische Laufbahn bewegt sich über das Betriebswirtschafts- und Psychologie/Philosophiestudium zu Zen und zur freien Kunst bei Rolf Thiele und Kunstgeschichte an der Uni Hamburg, Ihre Arbeit als freie Künstlerin führt sie mit Musikern zusammen und seit längerer Zeit pflegt sie einen regen Austausch mit japanischen Künstlern, stellt auch regelmäßig in Japan aus. Ute Seifert hat Fotografie und Malerei mitgebracht. In Raum 1 sind zwei magische Fotografien zu sehen, magisch, weil unwirklich, schwebend, farbintensiv und korrespondierend mit dem Blau von Iris Albrechts Balance-Akt, dabei völlig unverortbar, surreal, Da sind die banalen Steckdosen im Bild ein einziger Witz…und das Beste, die Situation ist echt und nicht digital verspielt. Ute Seiferts sensitives Gespür für Bildmomente in der Fotografie ist immer auch schon Basis ihres malerischen Schaffens gewesen. Hier ist es aber nicht der schnelle Erkenntnisblitz eines lohnenden Motivs, sondern der lange, geduldige und achtsame Dialog mit der Farbe. In periodischen Bildfolgen steht meist eine Farbe im Fokus, zur Zeit ist es das Blau in all seinen Schattierungen. Hier zeigt die Künstlerin zwei kleinformatige Reihen zur Untersuchung des Blau, die in unterschiedlichen formalen Anordnungen und orthogonalen Rasterformen geometrisch streng eingegrenzt werden und doch ihr Eigenes leben, ihre Überflutungen, ihre Körper- und Raumfluchten ergreifen. Und das geschieht durch viele Lasuren der unterschiedlichsten Blau-Pigmente gelöst in Ei-Tempera, vom tiefsten Nachtblau (nein, es ist kein Schwarz,) bis zum bläulich schimmernden Weiß. „In between“ heißt die Serie, und es ist das „Dazwischen“, das thematisiert wird, die Suche nach diesen unmerklichen Farbmutationen, die Spannung zwischen den Farbpolen erzeugen. Farbmalerei ist ein schwieriges Feld für das Auge des Betrachtenden, und Ute Seifert fordert es heraus, besonders mit den beiden Großformaten ohne hilfreiche Titel. Erst bei längerem, intensiven Schauen und – ich benutze dieses Wort jetzt, ja – „Sich hineingeben“, „Sich einlassen“ auf und in das Bild erkennt man die leise Buntheit der Ränder eines weißen Ovals. Viele Farb-Schichten und zwei Jahre Arbeit lassen uns hier praktisch das physikalische Weiß erfahren, in dem sich alle Farben des Spektrums chromatisch vereinen.

 

Michael Kolod ist in Wuppertal geboren, lebt lange schon in der Nähe von Frankfurt/M. Dort hat er an der Städelschule bei Raimer Jochims freie Kunst studiert und daneben an der Goethe-Universität Philosophie, Politik und Geschichte. Es folgte eine Assistenzzeit bei Raimer Jochims und eine Zeit als Hüter der graphischen Sammlung am Städel. Bis 2015 hatte Kolod einen Lehrauftrag an der HfBK Mainz inne. Jetzt ist er frei als freier Künstler und bietet „Übungen zur Kunst des Sehens“ an. Von einem, der bei Raimer Jochims, dem Farbmagier, studiert und gearbeitet hat, erwartet man ein ganzes Spektrum vielformatiger Leinwände konkreter Kunst – aber nein, Michael Kolod zeigt uns Objekte. Objekte, die wie Interventionen zwischen den Bildern ihr eigenes Wesen treiben oder auf sie reagieren. Das Kostbarste an diesen gewitzten Werken ist ihre brillante Idee – denn die Materialien sind meistens Baumarktabfälle, und in der Tat holt der Künstler die Inspiration für seine Assemblagen von dort. Sie kennen alle dieses starke Kunststoff-Verpackungsband: mit seiner gerollten Spannung lässt es in Schnipseln eine „Litanei“ singen, die Spirale zum Aufzug werden; ein rotes Ranknetz stützt zartgrüntransparente Papierblätter, ein Farbenfest!; eine Segelform im Wind aus einem innen strukturiert orange bemalten PVC-Rest strahlt seine Leuchtkraft auf die Wand ab; zur Fläche verhält sich formal entsprechend spiegelverkehrt das Stück Gewindestange. Es fasziniert, wie Form, Farbe und alltägliche, armselige Materialien zu leisen, aber lebendigen und überraschenden Kunstaussagen führen.

 

Und heiter geht es auch bei Ulrich Barth zu.  

Ulrich Barth lebt und arbeitet in Hannover, hat nach Litho- und Drucker-Ausbildung das Diplom-Studium Freie Malerei bei Günther W. Sellung in Hannover absolviert, ist neben seiner Künstlertätigkeit pädagogischer Mitarbeiter der Werk-statt-Schule Hannover. Er beschreibt sich selbst als „experimentell informellen Maler, der in seinen Bildern Farbe, Handschrift, Spontaneität und Leichtigkeit“ vereint. Diese Einschätzung können wir hier, glaube ich, voll bestätigen! Farbleuchtend in unserer Ausstellung sind die großen Leinwände mit Acryl. Die kleinformatigen Aquarelle stehen nicht nach. Sie sind ortsbezogen auf Reisen entstanden, sie machen das Einlesen in Ulrich Barths Abstraktion leichter. Reinbunte Farben setzt er in Flächen gegeneinander, türmt übereinander und schafft gedachte Landschaftsheiterkeit, ein kleines Fest fürs Auge! Der Wert der reinen Farbe und ihre Bewegung in gegenseitiger Steigerung sind das eigentliche Thema. Die großen Leinwände breiten die Vielfalt der Valeurs weiter aus durch die Trübung des Reinbunt aus der Dispersions-Grundierung heraus, eine ebenso einfache wie geniale Idee. Die vielen konisch oder gezackt verlaufenden Formen bündeln sich zu Richtungen; Umrandungen oder Linienfragmente schreiben sowohl Fixierung als auch Irritation ein. Das Auge wandert, kann sich einfach auf das Informelle, Gegenstandsfreie einlassen. Soll aber Sinn gesucht werden, sind die witzigen, eigentlich aus der Bauhauspraxis

erwachsenen Titel vielleicht hilfreich, zumindest laden sie zum Schmunzeln ein. Barth personifiziert gewissermaßen seine Farben, macht sie zu Akteuren im Bild. Da heißt es z. B. „Blau amüsiert sich mit Orange und Weiß zieht drüber her“ oder „Rot ist schüchtern und Blau nutzt das aus“.

Von Ulrich Barth geht übrigens die Initiative zum jährlichen Erfahrungsaustausch der Kolleginnen und Kollegen und zum gemeinsamen Arbeitswochenende aus. Seit 2013 trifft man sich, Gisela Schattenburg kommt 2016 hinzu. Heute eröffnen wir ihre erste gemeinsame Ausstellung, herzlichen Glückwunsch!

 

 

Welche Einheit in der Vielfalt, Bezüge, Querverbindungen gibt es hier, trotz der auf den ersten Blick weit auseinander fallenden Positionen – also „Überlagerungen“, die Schau ist durchaus im Sinn des Titels topologisch äquivalent. Und jetzt übergebe ich an Sie, meine Herren und Damen, kommunizieren Sie mit den Künstler*innen, kommunizieren Sie mit den Werken. Denn wie sagte Gerhard Richter bei einer seiner Ausstellungseröffnungen sinngemäß: “Das Werk ist erst vollendet, wenn der Betrachter mit Ihm eine Beziehung eingeht.“